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Fakten! Fakten! Fakten! Wider eine überdramatisierte Weltsicht

In seinem 2018 erschienen Buch „Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ geht Hans Rosling der Frage nach, ob die Angst vor einem „Untergang des Abendlandes“, wie Oswald Spengler ihn bereits vor gut 100 Jahren prophezeite, real und begründet oder irrational und rein gefühlsmäßig sei. Auf der Basis breit gefächerter, statistisch abgesicherter Daten kommt er zu dem Ergebnis: „Unser Gehirn verführt uns zu einer dramatisierenden Weltsicht, die mitnichten der Realität entspricht.“

Warum unser Gehirn einer „überdramatisierten Weltsicht“ einer „faktengestützten“ den Vorrang einräumt, sieht Rosling in der evolutionsbiologisch begründeten Funktionsweise unseres Gehirns. Es seien letztlich zehn Instinkte, die unser Denken bestimmten, wenn wir uns durch die Fehlinterpretation der tatsächlich gegebenen Situation einer vermeintlichen Bedrohung oder einem „Es wird alles immer schlimmer“-Szenario ausgesetzt wähnten. Angefangen vom Instinkt der Kluft, der dem Bild einer dichotomen Welt, die in Arm und Reich zerfällt, verhaftet ist, bis hin zum Instinkt der Dringlichkeit, der uns in einem permanenten Alarmzustand hält, mögliche Gefahren zu erkennen, um adäquat reagieren zu können, führt der Autor den Leser durch den Reigen der Instinkte, die in den meisten Fällen schon in der Begrifflichkeit die „überdramatisierte Weltsicht“ illustrieren. Einige Beispiele: der Instinkt der Negativität, der Instinkt der Angst, der Instinkt der Verallgemeinerung, der Instinkt der einzigen Perspektive und der Instinkt der Schuldzuweisung. Auch ohne näher auf die einzelnen Instinkte einzugehen, dürfte es leichtfallen, einen Satz wie: „Das Boot ist voll“, bezogen auf Überfremdung und Flüchtlingselend, einem oder gar mehreren der Instinkte zuzuordnen. Die Liste der gängigen Weltuntergangsprophezeiungen ist lang und reicht von der diffusen Angst vor dem Fremden über die vor Kriegen und Naturkatastrophen bis zu der manifesten Angst vor dem Kampf um immer knapper werdende Ressourcen bei stetig wachsender Weltbevölkerung. Wir kennen sie alle und haben ihnen in der Regel wenig entgegenzusetzen.

Hier mahnt Hans Rosling nun zu einer faktenbasierten Haltung, die der Unwissenheit mit Daten, Statistiken und Tatsachen begegnet. Anhand anschaulicher Beispiele räumt der Autor mit überholten Ansichten – Ursprung der Katastrophenszenarien – auf, indem er seine faktenbasierten Erkenntnisse auf Daten aus Quellen international tätiger Organisationen stützt. Die Veranschaulichung der Ergebnisse in (Blasen-)Diagrammen und Schaubildern ist für den Leser leicht verständlich, gut nachvollziehbar und überzeugend; die einzelnen Szenarien werden anhand persönlicher Erlebnisse des Autors spannend in Szene gesetzt.

Als Mediziner und Professor für internationale Gesundheit in Stockholm konnte der 2017 verstorbene Hans Rosling auf einen reichen Erfahrungsschatz in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen auf verschiedenen Kontinenten zurückgreifen. Diese Erfahrungen veranschaulichten ihm schon früh die Diskrepanz zwischen einer unbegründeten oder veralteten Weltsicht und der faktengestützten tatsächlichen Entwicklung, wie er sie manchmal auch schmerzhaft an eigenen Fehlurteilen erfahren musste.

Inwiefern man selbst Fehleinschätzungen unterliegt, darf man gleich zu Beginn der Lektüre des Buches erproben. Jeder Leser ist aufgefordert, einen Test zu durchlaufen, um den Realitätsgehalt seiner eigenen Weltsicht zu prüfen. Bei diesem in 14 Ländern durchgeführten Test bezüglich einer realistischen Einschätzung zu Themen wie: Weltbevölkerung, Katastrophen, Bildung, Artensterben u.a. nehmen laut der im Anhang des Buches abgedruckten Auswertung nach Ländern die USA und Südkorea die Spitzenreiter-, Frankreich und Belgien die Schlussposition ein. Deutschland liegt immerhin im Mittelfeld auf Platz sieben.   

Hans Rosling betont, er sei kein Optimist, sondern ein „ernsthafter ‚Possibilist‘“, worunter er einen Menschen versteht, „der weder unbegründeten Hoffnungen anhängt noch sich durch unbegründete Befürchtungen ängstigen lässt.“ Ihm geht es darum, den Leser zu einer kritischen Distanz zu ermutigen, d.h. immer dann Fakten einzufordern, wenn sich einer der „dramatisierenden Instinkte“ zu Wort meldet.

Schon während der Lektüre schwankt der Leser zwischen Erleichterung („Es ist offenbar doch alles besser als befürchtet.“) und Zweifel („Treffen Roslings Erkenntnisse tatsächlich den Kern des Problems?“). Dazu ein Beispiel: Die Aussage: „In den letzten 20 Jahren hat sich der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung nahezu halbiert“, verifiziert Rosling, indem er den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung in China, Indien und Süd-Lateinamerika veranschaulicht. Seine Argumentation ist schlüssig, und auch das Aufzeigen positiver Wirtschaftsbedingungen in Ländern auf dem afrikanischen Kontinent überzeugt den Leser, dass der Hunger in der Welt nun doch nicht so schlimm sei wie angenommen. Auf der anderen Seite weist Roslings Einteilung der 2018 ca. sieben Milliarden starken Weltbevölkerung fast eine Milliarde Menschen (800 Millionen) aus, die weniger als 2$ täglich zur Verfügung haben, also in extremer Armut leben. 800 Millionen Menschen, das ist die zehnfache Einwohnerzahl von Deutschland. Und diese Zahl ist und bleibt erschreckend hoch.

Hans Rosling wäre nicht glaubwürdig, sähe er nicht selbst, welche Risiken die Zukunft birgt. Er spricht von fünf globalen Risiken, die ihn beunruhigen: neben einer globalen Pandemie (!), einem Finanzkollaps, dem Dritten Weltkrieg, dem Klimawandel zählt er auch extreme Armut auf. Während er die ersten vier Szenarien als zukünftig möglich einstuft, die dann „Elend unbekannten Ausmaßes bedeuten könnten“, räumt er ein, dass extreme Armut bereits „Realität“ sei und schon heute großes Leid verursache. Den Skeptikern unter den Lesern ist daher zu empfehlen, das Kapitel „Die fünf globalen Risiken, die uns beunruhigen sollten“ zuerst zu lesen.

Mit Bezug auf die 50 Millionen Menschen, die Opfer der Spanischen Grippe zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden, warnt Rosling vor einer globalen Pandemie. „Seriöse Experten für Infektionskrankheiten stimmen darin überein, dass ein neuer aggressiver Grippetyp die größte Bedrohung für die globale Gesundheit darstellt. […] Eine durch die Luft übertragene Krankheit wie die Grippe, die sich schnell ausbreiten kann, stellt für die Menschheit eine größere Bedrohung dar als Ebola oder HIV/Aids.“ Wie weitsichtig, denkt der Leser. Heute, da die Weltbevölkerung seit einem Jahr extrem unter der Bedrohung durch  COVID-19 leidet, erleben wir aber auch „Factfulness in der Praxis“, wenn das Robert-Koch-Institut und Regierungsvertreter eine zahlenbasierte Informationspolitik betreiben, die dazu beitragen mag, die „dramatisierenden Instinkte“ zu zähmen.

Ein erster Erfolg solch einer faktenbasierten Haltung zeichnet sich in dem gerade veröffentlichten „World Happiness Report 2021“ ab. Eine Auswertung des Jahres 2020 unter COVID-19 brachte Deutschland einen ausgezeichneten fünften Platz ein, so dass das Land sich im Gesamt-Ranking 2018 – 2020 auf den Platz 13 vorgearbeitet hat.

Mit seinem Buch „Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist“ leistet Hans Rosling, der von seinem Sohn Ola Rosling und seiner Schwiegertochter Anna Rosling Rönnlund unterstützt wurde, einen wichtigen Beitrag zur Entdramatisierung der Sicht auf die Welt. Auch wenn das Buch keineswegs den Appell enthält, sich beruhigt zurückzulehnen, sind die gravierenden Entwicklungen, die sich in den Ländern jenseits Europas vollziehen, ein positives Signal, dass der „Untergang des Abendlandes“ zurzeit keine akute Bedrohung darstellt.

Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist

Hans Rosling, Anna Rosling Rönnlund, Ola Rosling

Ullstein Taschenbuch, 16,00 €

Aus dem Englischen übersetzt von Hans Freundl, Hans-Peter Remmler, Albrecht Schreiber.

ISBN: 9783548060415

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